«Kanäle haben sich vervielfacht, doch Ressourcen sind immer noch dieselben.»

09.06.22

si_9f26ae2c1a6db811f22f1ce96b9bac82.img

Wie wirkt sich Digitalisierung auf Unternehmenskommunikation aus? Michael Boenigk*, Professor an der Hochschule für Wirtschaft HSW Luzern, über das überholte Konzept der «one voice» und darüber, weshalb Führungskräfte loslassen und ihren Mitarbeitenden vertrauen müssen.


Redaktion/Interview: Textagentur etextera

Herr Boenigk, in der digitalen Kommunikation werden Kanäle und Plattformen immer zahlreicher – was bedeutet das für die Unternehmenskommunikation?
Die Aufgaben, aber auch die Herausforderungen sind durch die Digitalisierung heute wesentlich komplexer – das betrifft Strategie, Mediaplanung oder Organisation. Ganze Geschäftsfelder wurden umgekrempelt. So haben sich die Kanäle vervielfacht, doch die Ressourcen sind finanziell und personell immer noch dieselben. Deshalb gilt es, genau zu überlegen, welche Kanäle ich einsetze, welche Zielgruppe ich erreichen will.

Lange galt in der Unternehmenskommunikation das Konzept der «one voice».
Das ist überholt. Längst sprechen nicht mehr nur professionelle Kommunikatoren für ein Unternehmen, sondern viele Mitarbeitende. Inmitten dieser Stimmen ist die des Unternehmens nur noch eine unter vielen. Auch die Kommunikation mit Stakeholdern hat sich verändert: Corporate Social Response (CSR), also die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen, ist heute sehr wichtig. Ein Fehlverhalten von Firmen lässt sich nicht mehr unter den Teppich kehren – schliesslich kommunizieren alle aus dem Unternehmen heraus; und auch über das Unternehmen wird geredet. Dies alles ist kaum noch steuerbar.

Digitalisierung beginnt beim Kunden

In welchem Bereich fangen Unternehmen am besten an, sich der Digitalisierung zu stellen?
Dort, wo sie Geld verdienen – also beim Kunden. Zunächst muss ich abklären: Brauche ich digitale Kanäle? Welche machen bei meiner Zielgruppe Sinn? Wie schule ich meine Mitarbeitenden? Dabei stellt sich die Frage: Kann ich das alles selbst? Auf die Digitalisierung sollten Unternehmen schrittweise reagieren und nicht zu viel auf einmal wollen. Ein Benchmarking anstellen und schauen, wie es die anderen machen, zum Beispiel. Die Kunden zu ihren Interessen und ihrem medialen Verhalten befragen. Sich Rat bei externen Partnern holen. Einen Milestone-Plan für das kommende Jahr aufstellen mit vier bis fünf wichtigen Punkten – sich dabei aber nicht verzetteln. Und bei allem die Mitarbeiterkommunikation nicht vergessen.

Wie meinen Sie das?
Mitarbeitende müssen verstehen, wie wichtig sie sind – ihre Kommunikation, ihr Auftreten. Nehmen wir zum Beispiel Swiss: Das Unternehmen steht für authentische Swissness, das müssen alle Mitarbeitenden verinnerlichen – auch der Aushilfsstudent, der nur für drei Monate die Uniform trägt. Früher prägte der «Communication Manager» den Auftritt nach aussen, heute sind es alle Mitarbeitenden gemeinsam.

Gesucht: neues Selbstverständnis für Führungskräfte

Für Führungskräfte bedeutet dies allerdings auch, dass sie Verantwortung abgeben und in Mitarbeitende vertrauen müssen.
Genau. Das ist eine Frage der Generation: Digital Natives gehen damit ganz selbstverständlich um. Für die klassische Führungskraft über 50 hingegen, die vor 30 Jahren BWL studiert hat, ist dies eine fremde Denkweise. Doch bei so vielen verschiedenen Plattformen kann einer alleine nicht mehr alles kontrollieren. Deshalb müssen Führungskräfte loslassen und Mitarbeitenden vertrauen – was allerdings ein neues Selbstverständnis erfordert.

Wie viele Firmen haben sich den veränderten Rahmenbedingungen bereits angepasst?
Die meisten sind momentan in der Test- und Übungsphase, manche auch schon ein wenig weiter. Doch die Digitalisierung in ihrer Strategie verankert haben bisher die wenigsten – von Vorreitern wie Swisscom mal abgesehen. Die meisten Unternehmen müssen sich das Know-how erst noch aneignen.

Wenn wir uns in fünf Jahren wieder unterhalten ...
... hoffe ich, dass sich die Situation normalisiert hat. Und dass es bis dahin eine gewisse Rückbesinnung auf gute Kreativideen gibt. Momentan wird nämlich nur in Bits, Bytes und Zahlen gedacht. Doch damit allein kommen wir nicht weiter. Kreativideen sind in der Kommunikation nach wie vor das A und O.


Zur Person
*Prof. Dr. Michael Boenigk leitet das Competence Center Unternehmenskommunikation am Institut für Kommunikation und Marketing IKM der Hochschule für Wirtschaft HSW Luzern und ist Koordinator der Weiterbildungen des Institutes.